(3. bis 17. Okt. 1996)
"So what's the difference?" (Was ist
eigentlich der Unterschied?) fragte mein Übersetzer
erstaunt. Es erinnerte ihn das Gesehene derartig
an die Welt, daß er es kaum glauben konnte,
der Auftritt dieser hüpfenden Gestalten habe
etwas mit Christentum zu tun. Er hatte auf Video
kurz eine Szene vom Christival 1996 mitbekommen,
wie die "Hip-Hop-Dancefloor"-Band "Worldwide-Message-Tribe"
den Tausenden Jugendlichen am Elbufer einheizte,
und vier Tänzerinnen dazu immer wilder, dem
Rhythmus der Musik folgend, herumsprangen.
Mehr als viele Worte verdeutlichten diese Bilder,
wie dekadent die westliche Christenheit zum Teil
schon geworden ist. An der baptistischen Akademie
in Irpen bat man mich vor ca. 60 Studenten und
Studentinnen zu Zeitströmungen Stellung zu
nehmen. Diese Gläubigen, für die Nachfolge
eher Leid und Entbehrung bedeuten und noch völlig
anders geprägt sind als die westliche Wohlstands-
und Anspruchsgesellschaft, waren streckenweise
fassungslos über diese weltselige Anpassung.
Für sie ist es selbstverständlich, daß
sie sich als Christen von der Welt zu unterscheiden
haben. Zum Glück verstanden sie nicht die
Vulgärsprache der Jesus-Freaks, sonst wäre
der Kulturschock noch größer gewesen.
Der Wunsch war jedenfalls deutlich erkennbar,
selber nie in solche Niederungen des Zeitgeistes,
der sich als christlich bezeichnet, hineinzugeraten.
Als abschreckendes Beispiel eigneten sich solche
Szenen bestens, wobei ich allerdings anfügte,
daß diese "Dschungelauftritte"
nicht den ganzen Kongreß repräsentierten
und es sehr gute Seminare wie Verkündigungen
bei diesem größten deutschen evangelikalen
Jugendtreffen gab.
Dabei waren diese Szenen eigentlich ein Nebeneffekt.
Die mitgebrachten Videos behandelten in erster
Linie den "Toronto-Segen" und pfingstlich-charismatische
Heilungsdienste, doch weil auf den Bändern
noch Platz verfügbar war, wurden diese Bildfolgen
noch eingefügt. Jedenfalls ließ sich
der Spektakel, den Reinhard Bonnke, Benny Hinn,
und dann vor allem die "Toronto-Größen"
inszenierten, eindrücklich von der Schrift
aufarbeiten. Zu all diesen Phänomenen konnte
von der Bibel her eine Klärung bzw. Beurteilung
gegeben werden. Insofern bestätigte sich
für die Hörer erneut die Aktualität
von Gottes Wort, obwohl für die Baptisten
in der Ukraine ohnehin die Autorität der
Schrift nicht zur Debatte steht.
Doch wie war es dazu gekommen? Schon bei meinem
letzten Besuch im April 1995 hatte ich dem Direktor
der Baptistischen Akademie, Alexey Brinza, zugesagt,
Oktober 1996 wiederzukommen. Als Österreicher
fällt es mir schwer, dringenden Bitten zu
widerstehen und nein zu sagen. Als Christ noch
schwerer, gegebene Versprechen nicht zu halten.
So trat ich nolens-volens meine Reise Richtung
Kiew an, wobei ich in Wien noch einen zweitägigen
Zwischenstopp einlegte, um in einer freien Gemeinde
zu evangelisieren.
In die Ukraine mit zunehmender Kriminalität,
Mafia, buchstäblich tickender Zeitbombe Tschernobyl
und Lebensbedingungen wie zum Teil bei uns nach
dem Krieg, zieht es das Fleisch in nicht besonders
ausgeprägtem Maße. Doch rückblickend
bin ich umso dankbarer für diesen zweiwöchigen
Einsatz. Die Liebe der Geschwister ist echt und
die Dankbarkeit bewegend. Es erinnern mich diese
Gläubigen in gewisser Weise an die Gemeinde
von Smyrna, zu der der Herr Jesus sagt: "Ich
weiß deine Armut - du bist aber reich"
(Offb 2,9). Im Gegensatz dazu heißt es bei
Laodizea: "Du sprichst, ich bin reich und
habe gar satt und bedarf nichts! und weißt
nicht, daß du bist elend und jämmerlich,
arm, blind und bloß" (Offb 3,17), was
eine ziemlich zutreffende Schilderung der westlichen
Christenheit ist, wobei allerdings betont wurde,
daß dies natürlich nicht für alle
gilt.
Jedenfalls kam ich am 3. Okt. 1996 am Flughafen
bei Kiew an, von wo man mich zum nahegelegenen
Irpen zur Akademie brachte, die 1991 gegründet
wurde. Mit meiner Ankunft begann gleichzeitig
ein Wettlauf mit dem geplanten Eintreffen meines
frischgedruckten Buches in Russisch. In Moskau
hergestellt, kurz vor meinem Besuchsantritt fertig
geworden, ergab sich die Frage, ob es bei meinen
Vorträgen schon zum Verteilen da sein werde.
Tatsächlich, es lagerte bereits eine Sendung
von 500 Stück beim Zollamt in der Hauptstadt
dieses nach Rußland größten europäischen
Landes.
Die Brüder waren zuversichtlich, diese Pakete
schon am nächsten Tag zu erhalten. Ich war
skeptisch. Leider wurde meine Skepsis bestätigt.
Der Zoll machte Schwierigkeiten, bzw. die zuständige
Stelle war dann einfach geschlossen. So mußte
ich den Unterricht vor Sonntagsschulhelferinnen
und die Reise nach Schitomir ohne mein Buch gestalten
bzw. antreten.
Die Stadt Shitomir liegt ca. 150 km westlich
von Kiew. In der dortigen Baptistengemeinde evangelisierte
ich zunächst, am Sonntag sprach ich über
den Sieg Jesu. Zu meinem Erstaunen mußte
ich feststellen, daß Kenneth Copeland in
der Ukraine kein Unbekannter ist. Viele halten
ihn auch für einen rechtgläubigen Evangelikalen.
Seine Fernsehsendungen sind auch in Osteuropa
zu sehen. Dieser Mann und Kenneth Hagin sind die
Schlüsselfiguren der "Wort des Glaubens-Bewegung",
über die vor drei Jahren das Buch Christianity
in Crisis in Amerika erschienen war. Als ich einige
Zitate von Copeland aus diesem Buch vorlas, merkte
man bei etlichen Geschwistern Betroffenheit. Zum
Glück zeigte auch die Video-Kassette eine
Szene mit Copeland und Rodney Howard-Browne, die
selbst Charismatiker als schrecklich einstuften.
Sonntagabend ging es noch spät die Strecke
zurück nach Irpen. Dort begann dann der Unterricht
an der Akademie, diesmal vor einer anderen Klasse
von ca. 60 Studenten und Studentinnen. Der Hunger
nach Gottes Wort war groß. Bereitwilligst
nahm man die Unterweisungen aus der Bibel an,
doch in einer Haltung, die mich, zum Teil jedenfalls,
an die Christen von Beröa erinnerte.
Mein Buch war immer noch nicht eingetroffen.
Auch sonst wurden einige Pläne umgeändert,
da gerade auch in dieser Zeit der Präsident
der Baptistischen Welt-Allianz, Dr. Nilson Fanini,
die Ukraine besuchte. Am Mittwoch, den 9. Okt.,
hielt er seine Vorträge im Kiewer Baptistischen
Theologischen Seminar vor den versammelten überregionalen
Leitern und Pastoren dieser Freikirche, ca. 90
Leuten, wobei er aus dem Englischen übersetzt
wurde.
Ich beschloß an diesem Treffen nachmittags
noch teilzunehmen. Nilson Fanini ist Pastor der
Baptistengemeinde in Niteroi, Brasilien, eine
Gemeinde von 7000 Mitgliedern. Er berichtete von
den verschiedenen Arbeitsbereichen und Aktivitäten
dieser (meines Wissens) größten Baptistengemeinde
Brasiliens. Nach dem Vortrag, wobei er gleich
zur nächsten Predigt weitereilen mußte,
gab er mir trotzdem noch sehr freundlich ein kurzes
Interview.
Als ihm am nächsten Tag die Frage gestellt
wurde, wie er zu der Charismatischen Bewegung
stehe, war seine überraschende Antwort: "Wir
lehnen die Zusammenarbeit ab." Man habe eine
Zeitlang versucht, mit den Charismatikern zusammenzuarbeiten.
Sie hätten danach entweder die Gemeinden
mit ihren Sonderlehren gespalten, viele Leute,
besonders die Jugend, abgezogen oder gar die Gemeinden
übernommen. Auf diese Weise, so Faninis Fazit,
"verloren wir in Brasilien 78 Gemeinden".
Bei diesem "bischöflichen" Treffen
gab es ein freudiges Wiedersehen mit einigen Pastoren,
die ich von früheren Diensten in der Ukraine
kannte. Sie baten mich, ein kurzes Grußwort,
das nicht länger als 10 Minuten beanspruchen
sollte, nach dem Abendessen an sie zu richten.
Zurück in der Akademie stellte ich fest,
daß ein Wunder geschehen war. Meine Bücher
waren eingetroffen. Der Zoll hatte nur 50 $ verlangt.
Fast ein weiteres Wunder. Halleluja! Da diese
Haupttagung noch andauerte, nahm ein Bruder, Pavel,
der auch in Irpen nächtigte, am nächsten
Tag meine Bücher und Schriften zu der Konferenz
der Baptisten mit. So gelangten die Exemplare
in ausreichender Zahl an die Schlüsselleute.
Auch den Brüdern von Schitomir, die zu dritt
angereist waren, konnten nun die versprochenen
Bücher gleich mitgegeben werden. Sie erhielten
diese Neuauflage schneller als ich dachte. Hatte
ich es doch am Wochenende noch bedauert, ihnen
mein Buch nicht in die Hand drücken zu können.
Da Fanini seine Pläne änderte, wurden
auch meine Einsätze wiederum umorganisiert.
Nun sollte es doch noch, wie ursprünglich
geplant, nach Saporoschje gehen, einer Stadt mit
ca. 1 Mio. Einwohnern, 9 Baptistengemeinden und
einem Baptisten-Seminar. Pawel und ich fuhren
mit seinem Auto am Freitag den 11. Okt. um 5.00
Uhr früh von Irpen los und kamen tatsächlich
kurz vor 13.00 Uhr in dieser ostukrainischen Großstadt
an.
Bedrückend ist die Armut, die Düsternis
und der Schmutz, der dieses eigentlich so reiche
Land wie ein Schleier überzieht. Erneut wird
man daran erinnert, wie unglaublich gut wir es
im Westen haben und trotz mancher Einschnitte
ist unser Lebensstandard für den Durchschnittsukrainer
ein unerreichbarer Traum. Die Kleidung der Schwestern
ist oft alles andere als modern. Eher einfach,
abgetragen und oft genug minderwertiger Qualität.
Doch hat man den Eindruck, daß sie am inneren
Menschen umso reicher und reiner sind.
In Saporoschje ging es von einem Vortrag zum
anderen. Am ersten Abend sprach ich über
Gebet in einer Gemeinde, die sich im ehemaligen
Kino dieses Stadtteils, Sputnik genannt, traf.
Dieser Kinosaal hatte vor der Wende auch als Polizeiresidenz
gedient. Wie der Pastor meinte: "Früher
gingen wir dort hin zum Verhör, jetzt zum
Gebet." Der Staat gewährt zur Zeit völlige
Glaubensfreiheit.
Sogar am Sonntag, wo ich gerne über Gebet
oder die Größe unseres Herrn Jesu spreche,
bat man mich ausdrücklich, unbedingt über
die schwärmerischen Bewegungen zu sprechen.
Es gibt so viele Probleme mit ihnen an einigen
Orten, daß in diesem Bereich immer wieder
Fragen und den Wunsch nach biblischen Richtlinien
entstehen.
Diesmal waren wir mit genügend Büchern
ausgerüstet. Der geistliche Hunger ist groß
bei diesen Menschen und trotz wirtschaftlicher
Abwärtsentwicklung sind sie dankbar für
die neue Situation. Nun können sie endlich
viele Bücher erhalten, die vorher verboten
waren, und immer mehr gute evangelistische und
weiterführende Literatur gibt es nun in Russisch.
Das Durchschnittseinkommen liegt, so wurde mir
gesagt, bei umgerechnet ca. 80 $. Seit wenigen
Wochen gibt es eine neue Währung.
Die Geschwister hatten mir insgesamt 1500 DM
zur Weitergabe an die Brüder und Schwestern
vor Ort anvertraut. In Form von Dollars habe ich
diesen Betrag an die einzelnen Gläubigen
weitergegeben. Hier wollte ich ein treuer Verwalter
sein. Die Dankbarkeit der einzelnen Geschwister
war manchmal bewegend.
Beeindruckend war auch die Offenheit und Lernbereitschaft
der Studenten auf dem Baptisten-Seminar in Saporoschje.
Vor ca. 100 jungen Leuten gab man mir an zwei
Vormittagen die Möglichkeit, Vorträge
zu halten. Man konnte sich des Eindrucks nicht
entziehen, daß für viele diese Darlegungen
eine echte Hilfe waren.
Untergebracht war ich während meiner Zeit
in Saporoschje in einer Art Erholungsheim, dort
Sanatorium genannt, wo, jedenfalls in der Zeit
meines Aufenthalts, weder die Räume zu heizen
waren noch es warmes Wasser gab. Zum Glück
herrschte ein prächtiges Wetter, so daß
diese geringen Unannehmlichkeiten kaum ins Gewicht
fielen.
Während meines Aufenthalts, u.a. auch dort
in diesem Sanatorium, traf ich viele amerikanische
Missionare. Mit ihnen verband mich ausnahmslos
eine schöne Freundschaft und Gleichklang
der Herzen. Don Makalous z.B. ist Leiter der Seelsorgeabteilung
der ca. 3000 Mitglieder großen unabhängigen
Freikirche in San Antonio, Texas. Er erklärte:
"Wir Amerikaner haben unser Ich vergötzt!"
(We have made a cult of our self!).
In diesem Gebäude war für eine Nacht
auch Nilson Fanini mit Ehefrau untergebracht.
Er hatte am Sonntag im großen Segen in Saporoschje
evangelisiert. So ergab es sich, daß ich
zusammen mit den Dolmetschern und anderen Geschwistern
mit Fanini und seiner Frau, die noch dazu Deutsch
beherrscht, an einem Tisch saß. Es war eine
schöne Gemeinschaft. Auch frühstückten
wir am nächsten Tag noch gemeinsam und Fanini
sprach die Einladung aus, falls ich wieder nach
Brasilien kommen sollte, ihn doch in Niterói
zu besuchen.
So war ich von Herzen dankbar über Gottes
Führungen. Auch hatten viele die Bitte ausgesprochen,
ich möge wiederkommen. Sie würden die
verantwortlichen Leiter und Pastoren im größeren
Umkreis einladen, ich müßte sie nur
rechtzeitig verständigen. Es fällt schwer,
bei so großer Herzlichkeit und vielen Bitten,
einen weiteren Besuch abzulehnen.