(1. bis 11. Juli 94)
Die Szene war malerisch, einfach idyllisch. Seen
wie man bei uns davon träumt. Umgeben von
Bäumen und Schilf an fast ungetrübtem
Gewässer, zeigte hier einer von Lettlands
2300 Seen etwas von seiner Schönheit.
Bei dieser nun zweiten Reise nach Lettland war
es mir mehr als beim letzten Mal im Oktober 1992
gegönnt, etwas auch von der Schönheit
des Landes zur Kenntnis nehmen zu können.
Das Wetter war traumhaft. In Rigas größter
Gemeinde, der Baptistengemeinde von Joseph Bondarenko
erwähnte ich deswegen auch, daß für
mich, in meiner Erinnerung jedenfalls, Latvia,
wie die Einheimischen Lettland nennen, an Sonnenreichtum
Kalifornien nicht nachsteht. Dies bewirkte natürlich
ein Schmunzeln unter den Zuhörern, denn diese
Gegend ist dafür bekannt, daß es in
erster Linie regnet und jede Menge Niederschlag
gibt. Nur 64 Tage im Jahr, so erklärte man
mir, scheine die Sonne. Der Rest ist regen- und
wolkenverhangen. Doch das Hoch, das Europa zum
Schwitzen brachte, dehnte sich bis auf das Baltikum
aus.
Seit dem Putsch in Moskau und der neuen Freiheit
hat sich vieles geändert. 30% der Bevölkerung
ist wohlhabend bzw. profitiert materiell von der
neuen Freiheit. 60% ist arm und die restlichen
10% bilden eine Art Zwischenschicht. Als ich den
Pastor einer estnisch-lettischen Grenzstadt, Valga,
nach seiner Meinung fragte, entgegnete er, daß
die Gläubigen dankbar sind für die neue
Freiheit, die Weltmenschen jedoch sind unzufrieden,
weil es ihnen nun wirtschaftlich schlechter geht.
Albert Arent, ein Rußlanddeutscher, der
mich während der ganzen Zeit, von einer Ausnahme
abgesehen, übersetzte, berichtete mir, wie
in der relativ kleinen Stadt Jekabpils (ehemals
Jakobstadt), im letzten Winter 7 Leute verhungert
sind. Den größten Teil der Rente zehrt
die Miete auf. Man hat kaum Geld, um noch heizen
zu können. Mit einer Kanne heißen Wassers
setzen sich die alten Menschen ins Bett, um sich
irgendwie im Winter noch warm halten zu können.
Das Geld reicht dann kaum noch für Nahrung.
Ein Rentner erhält 27 Lat (ca. 80 DM) Monatsrente,
was relativ hoch ist. Ein Arbeiter verdient ca.
30 Lat im Monat.
So gibt es manche Not, auch unter den Geschwistern.
Einer Frau, die alleinerziehend ist, weil sie
ihr Mann verlassen hat, muß wegen ihrer
Herzkrankheit fast all ihr Erspartes in teure
Medikamente stecken. Dies verschlingt die ohnehin
kärglichen Reserven. Mir hatten Christen
in Deutschland Geld anvertraut, um es Hilfebedürftigen
in Lettland weiterzugeben. Es fällt schwer,
die Dankbarkeit zu beschreiben, die diese Menschen
empfanden. Worte reichen hier eigentlich nicht
aus. Mit Tränen in den Augen dankte man auf
den Knien dem lebendigen Gott.
In Valga freute sich der dortige Baptistenpastor
der estnischen Gemeinde besonders über mein
Kommen. Mein Name war ihm ein Begriff von der
russischen Übersetzung meines Buches Gemeinde
Jesu - endzeitlich unterwandert? Er berichtete
der Gemeinde auch, was er im Zusammenhang mit
diesem Manuskript erlebte. In Valga handelte es
sich um eine große Baptistengemeinde mit
vielen aufmerksamen Zuhörern. Gerade in letzter
Zeit war sie sehr gewachsen. Die Gläubigen
führen dies darauf zurück, daß
vor der Wende die Christen sehr verfolgt wurden,
was ihre Zeugniskraft gestärkt hat. Etliche
der verantwortlichen Ältesten saßen
im Gefängnis und dürfen nun frei und
ungehindert das Evangelium verkündigen und
die Bibel verteilen. Dies ist für viele noch
immer wie ein Wunder.
Abends gab es noch ein gemütliches Zusammensein
mit Grill an einem lieblichen See, deren diese
Länder so viele haben. Da die Bevölkerungsdichte
relativ gering ist, findet sich in diesen ausgedehnten
Landstrichen noch viel eher unberührte Natur
und Plätze, die trotz aller Schönheit
nicht von Touristen überlaufen sind.
In diesen ca. 10 Tagen meines Aufenthalts gab
es mehrere Höhepunkte. Das schönste
Erlebnis war zweifellos der Gottesdienst in der
Baptistengemeinde von Genadi Zavalija, der auch
ein Bibelseminar leitet. Erst kürzlich war
er mit seiner Gemeinde in ein größeres
Gebäude umgezogen. Nach meiner evangelistischen
Botschaft rief er zur Bekehrung auf. Nun hatten
mir an den Vortagen schon etliche Leute interessiert
zugehört. Und nun kamen tatsächlich
Leute nach vorne. Erst ein junger Mann, der sich
vorne bei den Stufen hinkniete. Dann ein Ehepaar
und dann noch ältere Leute. Gerade bei dem
Ehepaar hatte ich den Eindruck, soweit dies bei
der Sprachbarriere überhaupt möglich
ist, daß ein echtes Wirken des Heiligen
Geistes an diesen Herzen geschehen war. Die beiden
jungen Leute strahlten dann auch und man konnte
in ihren Augen den Dank über die erfahrene
Gnade Gottes sehen.
Eine Freude war es für mich auch, meinen
ehemaligen Übersetzer, als ich vor ca. zwei
Jahren vor lutherischen Theologiestudenten sprach,
wiederzusehen. Inzwischen war Janis Vanags zum
Bischof aufgestiegen und er gilt als der jüngste
Bischof der lutherischen Kirche weltweit. Er ist,
von der Geschichte Lettlands her gesehen, sogar
Erzbischof. Er hat in gewisser Hinsicht für
Schlagzeilen gesorgt, weil er klarstellte, daß
er die Frauenordination ablehnt. Mit ihm führte
ich für idea ein Interview.
Ich hatte mir manche Frage aufgeschrieben, u.a.
wie die Reaktion auf seine Einstellung in dieser
Frage sei. Er erklärte, wie die östliche,
verfolgte Kirche einfach konservativ ausgerichtet
ist. Verfolgung um des Glaubens willen ist gewöhnlich
kein liberales Problem und von ihrer Geschichte
her haben diese Geschwister einfach eine andere
Prägung, nämlich dem Wort gegenüber
treu zu sein, trotz und gerade wegen Anfeindung.
So ist man viel konservativer eingestellt als
die übersättigte Staatskirche im Westen.
Der gute Mann hatte keine Ahnung von dem, was
sich derzeit in der EKD wegen des Frauenzentrums
in Gelnhausen abspielt bzw. im Vorfeld abgespielt
hat. Manches ist für diese Leute bald wie
ein Kulturschock. So habe er wegen seiner Einstellung
zur Frauenordination im Land selber kaum Probleme,
jedoch von der lettischen Kirche im Ausland (weil
so viele ausgewandert sind) werde manchmal stark
Druck gemacht. Doch den Geschwistern ist ihr geistliches
Erbe, das sich auch in Verfolgungszeiten bewährt
hat, wichtiger, als die Zustimmung einer verweltlichten
Christenheit.
Auch gegenüber pfingstlich-charismatischen
Strömungen ist man skeptisch. Zwar kämen
da manche belebende Impulse, doch früher
oder später kommt es fast unweigerlich zur
Spaltung.
Ähnlich äußerte sich der Generalsekretär
der Baptisten Lettlands, Ilmar Hirsch. Er sprach
fließend Deutsch, weil er in Wuppertal studiert
hatte. Genadi hatte das Gespräch am selben
Tag vermittelt. Auf die Frage, wie sie zu den
charimatischen Kreisen stehen, hob er nur abwehrend
die Hände. In Köln hatte er einmal vor
wenigen Jahren eine charismatische Veranstaltung
besucht. Klatschen, Tanz, Ausrufe wie "jetzt
kommt der Geist", Heilungen usw. Sein Kommentar:
"Es war schrecklich." Wörtlich
war ihm in Erinnerung geblieben, wie der Prediger
sagte: "Kommt morgen, morgen kommt ein stärkerer
Geist."
Auch bei diesen Geschwistern lehnt man im Gegensatz
zu den Baptisten Deutschlands die Ordination von
Frauen zu Pastorinnen ab. Die Baptisten haben
in diesem Land, ebenfalls eine Folge der besonderen
historischen Entwicklung, sogar einen Bischof.
Doch der befand sich zu diesem Zeitpunkt zu einem
Besuch in der Schweiz. Sonst gibt es einen baptistischen
Bischof nur noch in Moldawien. Seit der Wende
sind neun Gemeinden hinzugekommen, somit insgesamt
derzeit 69, und dies, obwohl viele, seitdem die
Grenzen offen sind, wegziehen. USA und Kanada
sind die bevorzugten Länder.
Eine besondere Freude war es für mich, Victor
Petrenko kennenzulernen. In der größten
Kirche Rigas, der ca. 500 Leute umfassenden Baptistenkirche
Bondarenkos, fungierte er als mein Übersetzer.
Diesmal mußte ich den Vortrag in Englisch
halten, denn Victor studiert seit 2 Jahren am
London Bible College und spricht von daher fließend
Englisch. Nach dem offiziellen Gottesdienst ergab
sich noch ein interessanter Austausch. Victor
hatte viele Fragen und ihn beunruhigte und verunsicherte
manches im Westen, besonders die charismatische
Bewegung.
Er erzählte mir, wie er in London mit den
anderen Collegestudenten zu einem Abend des Missionswerkes
"Ichthys" von Roger Foster eingeladen
war. Ichthys wird in England als gesegnetes evangelikales
Werk eingestuft, mir allerdings eher als charismatisch
und mystisch bekannt. Victor war überrascht,
mit welch einer Lautstärke die Musik losdröhnte,
die die jungen Menschen immer mehr anheizte. Foster
forderte die Anwesenden zum Tanz auf und sein
Predigtthema war 2. Sam. 6, wie David vor der
Bundeslade tanzte. Zum Schluß tanzten alle
Anwesenden (womöglich 200) und er war der
einzige, der nicht mitmachte. Daß man sich
dabei manchmal selber in Frage stellt, darf nicht
verwundern. Allein gegen so viele!
Ich zeigte bzw. übersetzte ihm dann Zitate
von dem Anbetungsleiter von John Wimber, Kevin
Prosch, festgehalten in der Zeitschrift der Geistlichen
Gemeinde-Erneuerung (GGE) der evangelischen Kirche.
Die vielleicht interessantesten Aussagen sind
folgende: "Ich habe gemerkt, daß bestimmte
Wirkungen des Heiligen Geistes nur eintreten,
wenn ich mit dem Schlagzeuger zusammen spiele,
also nicht singe. Oft wirkt das wie eine Prophetie...In
England erleben wir immer wieder, daß in
dem Moment, wo wir anfangen zu spielen, Menschen
aufschreien, weil sie von Dämonen befreit
werden...Bestimmte Noten und Harmonien bringen
den Geist Gottes in Bewegung" (GGE Nr. 47,
1/93, S. 13). Martin Bühlmann, einer der
Redner auf dem Gemeinde Kongreß im September
93 in Nürnberg und Leiter der "Basileia-Bewegung"
in Bern, oft Gastgeber von John Wimber, erklärt
sogar: "Der Rock'n' Roll hat der Welt eine
Sprache gegeben, die alle verstehen. Gott wird
diese Sprache nehmen, um den Völkern das
Heil zu vermitteln" (ibid).
Vor noch zwei Jahrzehnten wäre man mit solch
einer Aussage ein Fall für die Seelsorge
gewesen. Heute gilt man als Repräsentant
einer "geistlichen" Erneuerung. Was
man früher noch eindeutig als einem falschen
Geist zugehörig charakterisiert hätte,
gilt heute als ein anderer "erwecklicher"
Frömmigkeitsstil.
Victor war betroffen bis fast erschüttert,
was hier als Wirkung des Heiligen Geistes ausgegeben
wird. Die Berauschung der Seele, die machbare
Stimulierung der Emotionen, besonders in Verbindung
mit christlicher Rockmusik, wird bei der neu heranwachsenden
videotisierten Generation immer problemloser mit
dem Wirken des Heiligen Geistes auf eine Ebene
gestellt. Wort und Lehre ist nicht mehr entscheidend.
Hauptsache Auge und Gefühl werden angesprochen.
Psyche und Pneuma wird nicht mehr unterschieden,
man verwechselt das Salböl des Geistes Gottes
mit dem rauhen Schmieröl seiner eigenen angeheizten
Seele, Heidentum mit Christentum. Doch auch der
Tanz ums Goldene Kalb fand ja bekanntlich im Namen
Jahwes statt.
Ähnlich ging es bei dem Gebetsmarsch in
Berlin zu. "Höhepunkt des Marsches ist
die Abschlußversammlung im Olympiastadion,
ein über drei Stunden langes Programm mit
viel Musik und Tanzdarbietungen bei brütender
Hitze...Heidenreich ermuntert die Gäste zum
Auftakt, Jesus besonders zu begrüßen,
nämlich mit einem sogenannten 'Klatschopfer'
- fünf Minuten lang spendet die Menge frenetisch
Applaus" (idea spektrum, Nr. 26, S. 20).
Abgesehen von fleischlich nennt Paulus die Gläubigen
zu Korinth "nepios", was so viel wie
unmündig oder wie Säuglinge bedeutet.
Sehr gut hat Benedikt Peters in seinem Buch Geöffnete
Siegel diese Form der "Anbetung" beschrieben:
"Das zeigt uns, daß Anbetung immer
begründet ist...Das ist sehr wichtig in einer
Zeit, da immer mehr Christen heidnische Vorstellungen
von Anbetung haben: Sie denken, anbeten heiße,
sich in erhabene Gefühle hineinzusteigern,
sich durch äußerliche Stimulantien
wie entsprechende Musik, Händeklatschen,
Tanzen usw. in eine besondere Stimmung hineinversetzen
zu lassen. Das ist vollständig heidnisch.
So dienen etwa Hindus oder muslimische Derwische
ihren Göttern" (S. 13).
Victor und ich tauschten unsere Adressen aus und
bei uns beiden bestand der Wunsch, in Verbindung
zu bleiben. Es war dies der vorletzte Tag meines
Aufenthalts in Lettland. Am nächsten Tag
war bereits der Rückflug gebucht. An diesem
Sonntag hatte ich insgesamt drei Gottesdienste.
Bei der Verkündigung um 18.00 Uhr in einer
anderen Gemeinde stöhnten die Gläubigen,
für Lettland eher ungewöhnlich, unter
der Hitze.
Beeindruckend ist, wie viele der Geschwister
nach geistlicher Speise hungern. Besonders dankbar
ist man, wenn man lehrmäßig tiefer
in das Wort hineingeführt wird. Hier herrscht
streckenweise ein Hunger nach geistlicher Nahrung,
wie man es bei uns von Erweckungszeiten berichtet
hat. Obwohl manches organisatorisch nicht so abgelaufen
war, wie ich ursprünglich meinte und auch
einiges sich anders ergeben hatte, verließ
ich doch dieses Land mit großer Dankbarkeit
im Herzen. Dankbar darüber, wie der Herr
wiederum mehr als gnädig geführt hatte.