(28. Febr. bis 3. März 1993)
"Fahr bitte schneller, sonst sind wir eine
zu gute Zielscheibe für die Tschetniks",
meinte mein Reisebegleiter und Leiter dieser Fahrt,
der kroatische Freund und Bruder Bratko Horvat.
Diese Bemerkung war nicht dazu angetan, große
Gemütlichkeit zu verbreiten. Doch ca. 18
km lang sollten wir nun wieder eine Straße
befahren, die nur wenige hundert Meter am serbisch-kroatischen
Frontverlauf entlangführte. Wie war es dazu
gekommen?
Die Aussichten waren zunächst trübe.
Als ich am Mittwoch, den 23. Februar über
Wien, meiner Heimatstadt, nach Kroatien fahren
wollte, versank Ostösterreich im Schnee.
Verbunden mit starken Schneeverwehungen war es
ein Unwetter von seltener Heftigkeit. Autofahrer
auf der Südautobahn Wien-Graz, genau die
Route, die nach dem ehemaligen Jugoslawien führt,
saßen bis zu sechs oder gar acht Stunden
fest, bevor sie von Bergepanzern befreit werden
konnten. War also mein Weg nach Kroatien abgeschnitten?
Ursprünglich hatte ich mir die Tage im Februar
für eine mögliche Indienreise freigehalten.
Doch aus Indien wurde diesmal nichts. So schien
ein über einen Bekannten vermittelter Einsatz
in diesem Teil des südlichen Europas einleuchtend.
Zudem hatte ich schon vor längerer Zeit eine
Evangelisation anfangs März in Wien eingeplant.
Es schien daher naheliegend, dies zu verquicken,
ist doch von Wien aus der nördliche Teil
Kroatiens innerhalb weniger Stunden zu erreichen.
Doch nun waren die Straßen durch Schnee
und Eis blockiert.
Doch Gottes Zeitplanung ist bekanntlich vollkommen.
Da ich erst am Samstag von Zuhause wegfuhr, nachdem
sich die Schneechaos-Situation in Österreich
etwas beruhigt hatte, trafen wir schließlich
sonntags am Zielort in Puscine im nördlichen
Teil Kroatiens ein. Reisebegleiter von Wien an
war diesmal meine Mutter, die trotz ihrer 73 Jahre
eine solche Reise nicht scheute.
Um 16.30 Uhr war ein Nachmittagsgottesdienst
in der Baptistengemeinde vor Ort angesagt. Zuvor,
wir waren früh genug angekommen, konnte ich
noch insgesamt 360 Infusionsflaschen bei einem
gläubigen Arzt abladen. Diese und auch andere
Hilfsgüter waren für die Reise zur Unterstützung
der dort notleidenden Menschen mitgegeben bzw.
gespendet worden.
Der Großteil der Anwesenden im Gottesdienst
bestand aus Moslems, die von den Flüchtlingslagern
eigens mit Bussen hergefahren worden waren. Die
treibende Kraft hinter all diesen Initiativen
ist Bratko Horvat, ein Geschäftsmann, der
elektronische Geräte verkauft. Durch seinen
unermüdlichen Einsatz für das Evangelium
ist sein Haus und seine Firma bald zu einer zentralen
Anlaufstelle für umfangreiche Hilfslieferungen
durch Christen und ebenso auch Ausgangsbasis für
mancherlei evangelistische und diakonische Aktivitäten
im nördlichen Kroatien geworden. Bibeln wie
christliche Bücher in kroatischer und serbischer
Sprache aber auch alle Arten von Hilfsgütern
stapeln sich in den großräumigen Lagerhallen.
Da Bratko, der fließend Deutsch spricht,
an diesem Sonntag, den 28. Februar unterwegs war,
hatte ich einen anderen Übersetzer. Dieser
aber konnte kaum Deutsch. So hielt ich meine erste
Predigt in Kroatien wieder einmal in Englisch.
Am nächsten Morgen fand ich beim Frühstück
etwas Zeit zum Austausch mit Bratko Horvat, der
ein mehr als vielbeschäftigter Mann ist.
Auch für ProChrist, das nach Zagreb übertragen
wird, engagiert er sich. So kamen wir u.a. auf
die geplante Großevangelisation mit Billy
Graham zu sprechen. Als ich ihm erzählte,
wie in Deutschland die Allianz bei dieser Veranstaltung
zum ersten Mal mit den Adventisten offiziell zusammenarbeitet,
berichtete er mir folgendes: 1967 hatte Billy
Graham für 2 Tage in Zagreb evangelisiert.
Es waren Kästchen aufgehängt worden,
wo Leute, die ein geistliches Gespräch suchten,
vorgedruckte Traktate einwerfen konnten, auf denen
sie ihren Namen und Adresse eingetragen hatten.
Am zweiten Tag waren alle Kästchen verschwunden.
Die Adventisten hatten sie an sich genommen. Als
Resultat dieser Evangelisation gab es weder bei
Baptisten, noch bei den Brüdergemeinden,
noch bei Katholiken und Pfingstlern Zuwachs, wie
mir Bratko erklärte, doch bei den Adventisten
hatte sich ein erstaunliches Wachstum eingestellt.
In der Zeit danach waren sie damit beschäftigt,
neue Gemeindesäle zu bauen, da ihre alten
Versammlungsräume viel zu klein geworden
waren. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren,
daß mein baptistischer Bruder über
diese offene Kooperation mit den Adventisten im
wiedervereinigten Deutschland nicht allzu erbaut
war.
Nach dem Frühstück besuchten wir zusammen
mit dem Prediger der dortigen Baptistengemeinde,
Nikola Vukov, ein Flüchtlingslager in Varazdin.
Mit von der Partie waren drei Schotten, die die
Nacht vorher aus Großbritannien kommend
in Puscine eingetroffen waren. Beladen war ihr
Bus u.a. mit kroatischen Bibeln. Dieser Besuch
gab mir Gelegenheit, mich mit den Schotten näher
zu unterhalten und es entwickelte sich bald eine
richtige Freundschaft. Die Offenheit der Menschen,
es waren Katholiken, in diesem Lager war beeindruckend.
Wie dankbar nahmen sie doch materielle wie geistliche
Hilfe an.
Danach besuchten wir im Nachbarort Cakovec moslemische
Flüchtlinge, die in umgebauten Eisenbahnwaggons
leben. Der Pastor hatte schon etliche Kontakte
geknüpft und er galt als eine Art Vertrauensperson.
In solch einem Waggon erklärte uns ein Familienvater,
wie sie, obwohl Mohammedaner, nichts mit den Fundamentalisten
im Iran oder Irak zu tun haben wollen. "Wenn
in unserem Land, in Bosnien wieder Friede ist,
sollen die Missionare und die Prediger kommen.
Wir wollen das Evangelium hören", sagte
er zu meiner Überraschung. Für diesen
Mann war die Bibel das Wort Gottes. Wie waren
doch die Herzen dieser Menschen durch all dieses
Leid und Elend weich für das Evangelium geworden!
Obwohl nicht geplant, hatte ich den Wunsch, ihm
von der Errettung in Christus und der damit verbundenen
Heilsgewißheit zu berichten. Pastor Nikola
Vukov war mein Übersetzer. Die Gewißheit
der Vergebung ist das größte Geschenk,
dies umso mehr, als er wieder beabsichtigte, an
die Front zurückzukehren.
Am Abend besuchten wir in Varazdin noch eine
Kaserne mit moslemischen Flüchtlingen. Wir
hatten Schokoladen, Bibeln und christliche Schriften
mitgebracht. Welchen Raum sollten wir in diesem
großen Gebäude betreten? Schließlich
gingen wir im dritten Stock in einen saalähnlichen
Raum, der angefüllt mit nebeneinaderstehenden
Betten war. Gerne wurden unsere Süßigkeiten
angenommen. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhren
wir, daß derzeit Ramadan gefeiert wird.
In dieser Zeit gelten Muslime als besonders aggressiv,
doch wiederum war dort nichts davon zu merken.
Anhand von Bildpostern, die das menschliche Herz
darstellen und ich letztes Jahr aus Indien mitgebracht
hatte, erläuterte ich wiederum in englischer
Sprache mit einem Übersetzer das Evangelium
für diese leid-geprüften Menschen. Zwar
bat ich die Schotten, auch etwas zu sagen, doch
sie überließen mir den evangelistischen
Teil. Wiederum war ich gedrungen, diesen Flüchtlingen
das größte Geschenk hier auf Erden
zu bezeugen, nämlich das Geschenk der Sündenvergebung
zu haben. Diese persönliche Gewißheit
ist womöglich unser überzeugendstes
Argument gegenüber religiösen Menschen.
Der nächste Tag, Dienstag der 2. März,
begann mit unvorhergesehenen Schwierigkeiten.
Es war von unseren kroatischen Gastgebern vorgeschlagen
worden, uns, d.h. meine Mutter, die Schotten und
andere Besucher und mich nach Pakrac zu fahren.
Diese Stadt liegt praktisch im ehemaligen Frontbereich
und ist dementsprechend in Mitleidenschaft gezogen.
Dreitausend Menschen, fast die Hälfte der
Einwohner Pakracs, sollen durch die Kämpfe
getötet worden sein. Angekündigt waren
wir für 4.00 Uhr nachmittags in der dortigen
Baptistengemeinde, wo immer noch ein Pastor aushält
und mehr denn je Menschen unter Gottes Wort zusammenkommen.
Doch nun lief manches schief. Der Bus der Schotten
sprang nicht an. Es war Einbruch von naßkaltem
Wetter, das auch einigen Schnee brachte, und die
Zündung streikte. Der Bus von Bratko Horvat
sollte um 11.00 Uhr vormittags zurückkommen,
doch auch um 13.00 Uhr warteten wir immer noch
vergeblich auf dieses Fahrzeug.
Was also tun? Mit meinem eigenen Auto fahren?
Über diesen Gedanken war ich nicht allzu
glücklich. Die Straßen im letzten Wegstück
waren in einem sehr schlechten Zustand. Ein Schlagloch
folgte dem nächsten. Auch war uns klargemacht
worden, daß wir ein gewisses Risiko eingingen.
Die Woche unmittelbar davor waren zwei Kroaten,
die auf einem Traktor am Stadtrand von Pakrac
fuhren, von serbischen Einheiten erschossen worden.
Sollte ich für solch eine Fahrt mein erst
kürzlich gekauftes Auto zur Verfügung
stellen, das, ganz zu schweigen vom Platzmangel,
längst nicht so robust wie ein Bus ist? Eigentlich
wurde schon beschlossen, alles wieder abzublasen.
Doch dies war eine letzte Gelegenheit, denn am
nächsten Tag mußte ich wieder zurück
nach Wien, weil am Donnerstag die Evangelisation
begann. Schweren Herzens erklärte ich mich
schließlich bereit zu fahren. Meine Mutter
konnte aus Platzgründen nicht mitkommen.
Die hintere Sitzbank füllten die drei Schotten
aus. Neben mir saß Bratko.
Von Zagreb aus ging es zunächst ca. 80km
auf der Autobahn Richtung Süden. Mautgebühr
war keine zu entrichten, denn ein Dokument wies
uns bzw. Bratko als zugehörig zu dem Hilfswerk
"Moj bliznji" (mein Nächster) aus,
dem Bratko angehört und offiziell anerkannt
ist. Schließlich stießen wir in Gaj
auf einen UNO-Posten. Wiederum ermöglichte
dieses Dokument eine unkomplizierte Weiterfahrt.
Doch nun kam eine Strecke, wo es keine offiziellen
Sicherheiten mehr gab. Hier begann dieses ca.
18 km lange Wegstück, das nicht nur mit Gefahren
verbunden war, es war gleichzeitig ein Mahnmal
menschlicher Zerstörungswut. Die nun folgenden
Dörfer waren größtenteils beiderseits
der Straße zerstört. Kein Haus, das
unversehrt war. Eingestürzte Dachstühle,
ausgebrannte Fensterhöhlen, zertrümmerte
Mauern usw. Manche Häuserwände waren
nicht nur übersät mit Einschüssen,
etliche Mauern zeigten auch die Durchschüsse
großkalibriger Waffen. Wie mir Bratko berichtete,
sind im Zuge der Kriegshandlungen dort allein
ca. 30000 Granaten niedergegangen.
Je näher wir nach Pakrac kamen, desto schlechter
wurde der Straßenzustand. Kurz nach 4.00
Uhr trafen wir wohlbehalten vor der Baptistengemeinde
ein. Ein überglücklicher Pastor begrüßte
uns. Er hatte schon befürchtet, wir würden
nicht mehr kommen. Um die 60 Menschen waren versammelt.
Man war begierig nach Gottes Wort. Auf meine Frage,
wie lange man sprechen könne, wurde mir versichert,
daß es keine zeitlichen Beschränkungen
gebe.
Zunächst brachte ein schottischer Bruder
ein Grußwort. Danach sprach ich, mit Bratko
als Übersetzer, über unsere einzige
Rettungsmöglichkeit in Jesus Christus. Diesmal
blieb es nicht nur beim Darlegen dieser Tatsache,
ich gab auch die Einladung zur persönlichen
Entscheidung. Die Reaktion war spontan und acht
Hände meldeten sich. Nun, der Herr weiß,
was wirklich in der Ewigkeit gefunden wird, doch
die Bereitschaft, sich Gott anzuvertrauen, ist
überwältigend.
Auf dem Rückweg saß man die erste
Zeit womöglich wiederum auf dem Präsentierteller
für etwaige serbische Scharfschützen.
Doch Schnee, Nebel und die inzwischen hereingebrochene
Nacht verhinderten zwar eine gute Sicht, dürften
aber auch für ein feindliches Auge nicht
leicht zu durchdringen gewesen sein, abgesehen
davon, daß man sich in Gottes Hand weiß.
Den mehr als schlechten Straßenzustand wollte
ich durch langsames Fahren wettmachen, doch da
kam die eingangs zitierte Ermahnung, doch etwas
Gas zu geben.
An den Tankstellen verteilte Bratko christliche
Bücher. Hauptrenner ist Wilhelm Busch` "Jesus
unser Schicksal" in kroatischer Sprache.
Auch an den Autobahnmautstellen nahmen die Beamten
gerne diese Literatur entgegen. "Vor zwei
Jahren konnte man kaum ein Buch mit christlichem
Inhalt in Kroatien loswerden" meinte Bratko,
"nun kommen wir kaum mit dem Drucken nach".
"Dies ist die Stunde des Evangeliums für
Kroatien", erklärte er. Zwar war Kroatien
von 1556 bis 1650 protestantisch, doch noch nie
dürfte das Volk so offen für Gottes
Wort wie in diesen Tagen sein.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß
der lebendige Gott mit bestimmten Völkern
bestimmte heilsgeschichtliche Zeitpunkte setzt.
"Gottes Wort ist wie ein Platzregen",
sagte Luther. Von den westlichen Wohlstandsländern
dürfte sich diese Segenswolke längst
entfernt haben. Viele achten sich des ewigen Lebens
nicht für würdig (Apg 13,46). Doch der
Kairos Gottes gilt offensichtlich gegenwärtig
u.a. auch diesem relativ kleinen Volk und Land.
Es ist jetzt Erntezeit. So kann man nur hoffen,
daß die Gläubigen diese Gelegenheit
wahrnehmen und nicht Sektierern das Einholen dieser
vorbereiteten Seelen überlassen. Hier ist
Jesu Wort besonders aktuell: "Die Ernte ist
groß, aber wenige sind der Arbeiter. Bittet
den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in
seine Ernte sende" (Mt 9,37).